«Nach langer Zeit auf der Gasse fand ich in harten aber lehrreichen Jahren beim Sozialwerk Pfarrer Sieber den Rank.»

Tania S., ehemalige Bewohnerin Sunedörfli

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Tania S. kam als Jugendliche ins Heim, nahm Drogen und war im Gefängnis. Ihre drei Kinder musste sie fremdplatzieren.

Vor fünf Jahren hatte ich eine Haftstrafe wegen unbezahlter Bussen abzusitzen. Substituiert, also mit ärztlich verordneten Ersatzdrogen. Aber mir war bewusst, dass ich aufhören musste. Sowohl mit Drogen wie auch mit
verordneten Ersatzstoffen. Substitution nimmt dir zwar den Suchtdruck, süchtig aber bleibst du.

Die Justiz half mir jedoch nicht bei der Suche nach einem Therapieplatz. Zum Glück wurde ich aufs Sozialwerk Pfarrer Sieber aufmerksam. Ein Mitarbeiter holte mich vom Gefängnis ab und brachte mich zum Entzug ins Sunedörfli. Die ersten zwei Wochen schlief ich täglich fast 18 Stunden, so entkräftet war ich. Mein Lebenswille aber war wach. Es folgten dreieinhalb harte, aber lehrreiche Therapiejahre im Sunedörfli. Ich lernte mich selbst besser kennen und das biedere Alltagsleben schätzen; es gibt mir Stabilität und Tagesstruktur. Bald begann ich als freiwillige Hilfspflegerin in einem Pflegeheim zu arbeiten. Nachdem ich den SRK-Kurs als Pflegehelferin gemacht hatte, stellte mich das Heim mit einem Teilzeitpensum ein. Der Job gefällt mir.

Ein tränenreiches Kapitel sind meine Kinder. Nicht, weil sie schwierig wären, im Gegenteil. Nachdem ich es mit den Buben zunächst probiert hatte, musste ich bald feststellen, dass ich ihnen kein Daheim bieten konnte. Ich stimmte der Fremdplatzierung zu. Das war der beste Entscheid meines Lebens – aber er brachte mich fast um. Denn ich ahnte, dass sie nie mehr zu mir zurückkehren würden. Das tat weh. Aber für sie war es richtig. Sie wuchsen bei lieben Pflegeeltern auf. Heute haben wir einen guten Kontakt und ich bin stolz, dass sie eine Ausbildung haben und zu verantwortungsvollen Menschen herangewachsen sind.

Meine Tochter ist deutlich jünger als ihre Brüder und wuchs in einem Kinderheim auf. Dort durfte ich sie jeweils zwei Stunden pro Woche besuchen. Weil ich nun clean bin und arbeite, konnte sie im Sommer zu mir ziehen. Sie hat die Umstellung gut verkraftet und sich in der neuen Schulklasse eingelebt. Wir beide haben auch rasch zueinander gefunden und sind glücklich. Im Heim hatte sie es auch gut. Regelmässig besucht sie nun ihre Gspänli dort.

Meine eigenen Heimerinnerungen sind weniger gut: Nachdem ich als 13-Jährige aus der Schule geflogen war, musste ich in ein Heim. Dort rebellierte ich, kiffte und nahm bald harte Drogen. Jahre auf der Gasse folgten, bis ich vor fünf Jahren den Rank fand. Ich bin mir bewusst, dass ich wieder abstürzen könnte. Aber ich weiss heute, worauf ich achten und was ich tun muss, wenn ich die Alarmzeichen erkenne.

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«Unser Ziel in der Anlaufstelle Brot-Egge ist es, Menschen in Not rasch und unbürokratisch zu helfen.»

Jasmin Paul, Leiterin Anlaufstelle Brot-Egge

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«Unser Ziel in der Anlaufstelle Brot-Egge ist es, Menschen in Not rasch und unbürokratisch zu helfen», sagt Betriebsleiterin Jasmin Paul. Konkret heisst das zum Beispiel, dass sie Betroffenen ein Gratis-Frühstück bereitstellt.

Seit Anfang 2024 leitet Jasmin Paul die Anlaufstelle Brot-Egge. Zuvor sammelte die sportbegeisterte Baselländerin in verschiedenen Unternehmen Berufserfahrung. Nach der Ausbildung zur Bankfachfrau und etlichen Jahren in diesem Beruf folgten Ausbildungen in angewandter Psychologie und körperzentrierter psychologischer Beratung. Jasmin Paul arbeitete in verschiedenen Psychiatrien. Menschen am Rand der Gesellschaft liegen ihr persönlich am Herzen.

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«Womöglich hat mich eine Art Pfuusbus-Virus gepackt. – Ich schätze die Gemeinschaft mit den Gästen und dem Küchenteam sehr. Ich habe die Menschen liebgewonnen – und bin selbst gern in guter Gesellschaft.»

Berthe Spielmann, seit mehr als 20 Jahren Freiwillige beim Pfuusbus

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Seit der ersten Stunde vor 20 Jahren arbeitet Berthe Spielmann im Pfuusbus mit. 

Früher habe ich an zwei Tagen pro Woche im Pfuusbus ausgeholfen, heute noch an einem auf Abruf», sagt Berthe Spielmann. Das ist durchaus verständlich, wenn man bedenkt, dass sie bereits 86 Jahre alt ist.

Ursprünglich stammt die gelernte Töpferin aus Zug. Über eine damalige Schulkollegin lernte sie Sonja Sieber, Pfarrer Siebers Ehefrau, kennen. Bevor der Pfuusbus in Betrieb genommen wurde, war Berthe mit anderen Freiwilligen auf dem Platzspitz und beim Letten im Einsatz, um Essen zu verteilen. «Zu Beginn herrschte noch die Szenenzeit. Die Suchtkranken waren eher skeptisch gegenüber dem Pfuusbus».

Der heutige Pfuusbus sei nicht mehr mit dem damaligen zu vergleichen: «Früher gab es nur den Bus mit zwölf Etagenbetten und einer kleinen Küche.» Gäste mit Hunden fanden im kleinen Bauwagen neben dem Pfuusbus, dem Waldschnägg, Unterschlupf. Erst fünf Jahre nach der Eröffnung kam ein erstes Vorzelt mit weiteren Schlafplätzen hinzu. Berthe erinnert sich gerne an die Atmosphäre von damals: «Es war sehr familiär. Häufig spielte jemand auf der Gitarre und wir sangen.» Auch das kulinarische Angebot habe sich verändert. «Zu Anfangszeiten gab es vor allem einen Suppe. Heute kochen wir vollwertige Menüs.»

Pfarrer Ernst Sieber war regelmässig im Pfuusbus anzutreffen. Dabei äusserte er gerne seine Meinung zu gewissen Vorgehensweisen, erinnert sich Berthe. «Mit der Zeit bekam ich von ihm den Übernamen Schreckbürste. Jedoch nur, wenn ich anderer Meinung war», fügt sie mit schelmischem Lächeln an. Trotz des wenig schmeichelhaften Übernamens sei die Zusammenarbeit mit Pfarrer Sieber stets herzlich gewesen. «Heute vermisse ich Ernst.»

Das Engagement als Freiwillige ist eine Herzensangelegenheit für Berthe. «Womöglich hat mich eine Art Pfuusbus- Virus gepackt», meint sie. «Ich schätze die Gemeinschaft mit den Gästen und dem Küchenteam sehr. Ich habe die Menschen liebgewonnen – und bin selbst gern in guter Gesellschaft.»

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«Ich bin doch zu jung für ein Altersheim.»

Samuel, Patient Sune-Egge

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Samuel (60) verbrachte sein halbes Leben im Ausland. Bis er im Rollstuhl landete. Heute pendelt er zwischen Altersheim und Fachspital Sune-Egge. Er blickt zurück:

Geboren und aufgewachsen bin ich in Pfäffikon ZH. Schon in jungen Jahren wollte ich die Welt entdecken. Es hielt mich nie lange an einem Ort. Nach einem Praktikum als Pfleger bewarb ich mich für eine Ausbildung zum Psychiatriepfleger. Der Vertrag war bereits aufgesetzt, doch ich folgte der Einladung eines ehemaligen Arbeitskollegen und verliess kurzerhand die Schweiz, um in Berlin in einem Gefängnisabteil eines Spitals zu arbeiten. Als überzeugter Punk konnte ich mir das nicht entgehen lassen.

Es dauerte genau neun Monate, bis ich wieder in Zürich landete. Und kurz darauf im Tessin, wo ich unter anderem für ein Jahr als Hilfsdachdecker und als Bootsvermieter jobbte. Später verschlug es mich und meine Freundin in eine stillgelegte Fabrik in Florenz. Dort lebten wir in einer Gemeinschaft. Nebst einem Skaterpark gab es sogar eine Art Notfallklinik für Migranten.

Als dann meine Freundin mit 21 Jahren an ihrer HIV-Infektion starb, fiel ich ein Loch. Ich fing an, harte Drogen zu nehmen. Ich entdeckte das Tätowieren und kam mit einer Italienerin zusammen. Gemeinsam eröffneten wir in der Schweiz ein Tattoo-Studio. Das ging einige Zeit gut, bis ich Lähmungserscheinungen in meinem rechten Unterarm bekam. Deshalb half ich mir mit dem Verkauf von Siebdruck-T-Shirts über die Runden.

Doch dann ging die Beziehung in die Brüche und ich konnte das Studio nicht mehr halten. Deshalb beantragte ich bei der Invalidenversicherung eine Rente. Als Selbstständiger musste ich zuerst viele Auflagen erfüllen sowie behördliche Hürden überwinden, bis mein Antrag gutgeheissen wurde. Stolz darauf bin ich nicht, denn ich wollte mein Geld schon immer selbst verdienen.

Obschon ich einige Jahre clean war, wurde ich letztes Jahr aufgrund einer folgenschweren Medikamentenüberdosierung depressiv und fiel in eine Alkoholsucht. Das führte so weit, dass ich ständig zwischen Spital und Suchtklinik pendelte und schliesslich in Pfarrer Siebers Sune-Egge landete.

Meine Sucht verursachte immer wieder Wutausbrüche. Nach einem Handgemenge schlug ich hart auf dem Boden auf. Seither kann ich nicht mehr richtig gehen. Jetzt lebe ich im Altersheim und bin an den Rollstuhl gefesselt.

Dank meiner Gewichtsreduktion und der grossartigen Wundversorgung im Sune-Egge geht es mir nun langsam besser. Die Leute hier sind freundlich und nehmen mich ernst. Das tut gut. Gerne würde ich wieder nach Italien reisen, wo meine Freunde leben. Meine gegenwärtige Situation lässt das leider nicht zu. Dennoch möchte ich so bald wie möglich wieder auf eigenen Füssen stehen.»

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«Wir wünschen uns, dass wir für alle Gäste gleichermassen eine Atmosphäre schaffen können, die ihnen ein bisschen das Gefühl gibt, "nach Hause zu kommen".»

Barbara Leuthold, Co-Leiterin Pfuusbus

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Seit 2015 arbeitet Barbara Leuthold als Betreuerin im Pfuusbus, seit der Saison 2023 als CoLeiterin.

Barbara, wie bist du zum Pfuusbus gekommen?
Als junge Frau hatte ich mich früh selbständig gemacht und mit meinem Bruder zusammen ein Personalvermittlungsbüro betrieben. Zugunsten meiner Kinder habe ich mich dann aber aus dem Erwerbsleben zurückgezogen und war Familienfrau. Als die drei ausgeflogen waren, wollte ich mich in der Gesellschaft anders nützlich machen und suchte über Benevol eine Freiwilligenbeschäftigung. Ich fand den Pfuusbus und habe gleich mein Herz an ihn verloren.

Hattest du keine Berührungsängste?
Nein. Ich liebe Menschen. Und weil ich während vieler Jahre im Kreis 4 gelebt hatte, war mir schon einigermassen bewusst, worauf ich mich da einlasse. Vor meiner ersten Nacht im Pfuusbus hatte ich dann aber doch etwas weiche Knie.

Lerntest du Pfarrer Sieber noch persönlich kennen?
Der Pfarrer kam zu Beginn noch regelmässig in den Pfuusbus. Sein Charisma und seine unkomplizierte Art beeindruckten mich schwer. Ich zolle ihm grössten Respekt für sein Herz für Menschen, die von der Gesellschaft am liebsten übersehen werden. Mich beeindruckt, wie sehr Obdachlose ihn auch heute, fünf Jahre nach seinem Tod, noch immer verehren.

Was hat sich seit deinem Einstieg im Pfuusbus verändert?
Waren unsere Gäste zu Beginn vor allem drogen- und alkoholsüchtig, gibt es heute auffallend mehr psychisch Erkrankte. Die gegenseitige Toleranz ist kleiner geworden. Fühlten sich unsere Gäste früher der grossen Pfuusbus-Schicksalsgemeinschaft zugehörig, bilden sich jetzt mehr Untergruppen. Das führt zu Konflikten und stellt uns Betreuende vor neue Herausforderungen. Wir wünschen uns, dass wir für alle Gäste gleichermassen eine Atmosphäre schaffen können, die ihnen ein bisschen das Gefühl gibt, «nach Hause zu kommen».

Was ist besonders an der fast schon legendären, guten Pfuusbus-Atmosphäre?
Niemand veranschaulicht dies besser als die Menschen, die trotz eines eigenen Zimmers irgendwo in der Stadt lieber im Pfuusbus übernachten wollen, weil sie hier nicht allein sind und Geborgenheit finden. Ein obdachloser Gast sagte mir einmal: «Auf der Gasse stirbst du nicht an Drogen oder Alkohol, sondern an Einsamkeit!» Diesen Satz habe ich nie vergessen. Darum muss unsere Anstrengung dahin gehen, diese Atmosphäre auch unter veränderten Bedingungen immer wieder aufs Neue zu schaffen und zu pflegen.

Der Betreuungsalltag ist herausfordernd. Ist er auch heiter?
Heiter ist es im Pfuusbus oft. Ich lache viel. Wer hier arbeitet, muss Menschen gern haben und mit Herzblut bei der Sache sein. Leider muss man sich auch mal unbeliebt machen und Regeln durchsetzen. Entschädigt wird man aber meist später mit Akzeptanz und aufrichtiger Dankbarkeit. Mir liegt Gemütlichkeit am Herzen. Letzte Saison ergriff das Schachfieber den Pfuusbus. Sogar Turniere wurden ausgetragen. Für mich gab es schon Winter, da habe ich fast jeden Abend einen Jass geklopft.

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«Ich weiss, wie hoffnungslos Drogensüchtige leben. Deshalb will ich ihnen als lebendiges Gegenbeispiel Hoffnung geben.»

Matti, ehem. Patient Sune-Egge, heute Gassenarbeiter

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Mehrmals dachte Matthias in seiner dunkelsten Zeit als Obdachloser und Drogensüchtiger an Suizid. Heute ist er drogenfrei und dankbar. Dazwischen liegt ein Wunder, das er sich selbst nicht erklären kann.

Das WC als Ort der Entscheidung
«20 Jahre lang war ich schwer drogensüchtig. Ich hatte Hepatitis A, B und C, am ganzen Körper Abszesse, offene Wunden, meine Leber war kaputt – ich war ein Wrack. Ich nahm Drogen, Alkohol, verübte Einbrüche und Raubüberfälle, musste wiederholt ins Gefängnis – und war obdachlos, ziellos, von der Sucht getrieben. Mehrmals wollte ich mir das Leben nehmen. Es hatte ja alles keinen Sinn. Zahllose Entzüge mündeten in erneute Abstürze. Alles war so aussichtslos. Dabei hatte mein Leben gut angefangen. Zusammen mit zwei Brüdern wuchs ich behütet auf. Doch als ich 12 war, trennten sich meine Eltern. Das war für mich unfassbar. Im Kiffen, später den harten Drogen, suchte ich die Geborgenheit, die mir plötzlich fehlte. Über meine Mutter fand ich dann zwar in einer Freikirche zum Glauben. Dennoch ging es bergab. Nach der Lehre im Verkauf stürzte ich vollends ab. Ich erlebte den Letten und begegnete dort Pfarrer Sieber und seinen Leuten. Aber die Sucht hatte mich völlig in ihrem eisernen Griff. In meinem Elend erwog ich mehrmals, mir das Leben zu nehmen. Zum Glück tat ich es nie. Denn ich hätte das Wunder nicht erlebt, das bei einem meiner Aufenthalte im Spital Sune-Egge geschah.

Der erste Schritt war nicht der schwierigste
Als ich zum x-ten Mal in den Sune-Egge eingeliefert wurde, geschah es. Es war mir gelungen, unbemerkt Kokain ins Spital zu schmuggeln. Als ich im Zimmer das Säckchen in der Hand hielt, sagte mir eine innere Stimme, dass ich es nicht konsumieren sollte. Ich rang mit mir und entschloss mich dann, mich einem Pfleger anzuvertrauen. Dieser hörte mir zu und ging dann mit mir zur Toilette. Dort hiess er mich, das Pulver zu entsorgen und hinunterzuspülen. Mein Verlangen nach dem Stoff war zwar gross, doch schliesslich brachte ich es fertig, das Gift zu entsorgen. Von diesem Moment an rührte ich nie mehr harte Drogen an. In meinem Kopf hatte es «klick» gemacht.

Vom Abbau zum Aufbau
Nun war für mich klar, dass ich nach den harten Drogen und dem Alkohol auch das Methadon, die Benzos und das Rauchen loswerden wollte. In den folgenden Jahren baute ich – gegen den Widerstand der Ärzte, die das als zu gefährlich erachteten – meinen Methadonkonsum ab. Ich schaffte es. Seit drei Jahren bin ich gänzlich clean. Das Wunder des Sune-Egge war jedoch noch nicht vorbei. Als mich die Ärzte später untersuchten, hatte ich keine Hepatitis mehr! Warum das so ist, wissen sie nicht. Für mich ist klar, dass es Christus war, der mich heilte, weil Christen für mich gebetet hatten. Ich bin gesund und dankbar dafür. Und weil ich weiss, wie hoffnungslos Drogensüchtige leben, will ich ihnen nun als lebendiges Gegenbeispiel Hoffnung geben. So mache ich heute freiwillig Gassenarbeit. Ich gehöre auf die Gasse – jetzt einfach anders.

Von meinem Glauben erzählen
Einmal wöchentlich besuche ich als Ehemaliger die Andachten im Sune-Egge. Wenn es gefragt ist, ermutige ich die anwesenden Patienten, an die Wende im Leben zu glauben. Ich habe es geschafft, also können es auch andere. Vielen macht meine Geschichte Eindruck. Gläubig sind zwar die wenigsten. Aber selbst hartgesottene Atheisten fragen mich nach der Rolle meines Glaubens. Da erzähle ich dann von meiner Überzeugung. Das gibt gute Gespräche. Und es bereit mir auch keine Mühe, einen Atheisten von Herzen zu umarmen. Ganz wie mein Vorbild Pfarrer Sieber.»

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«Ich blicke stets nach vorn.»

Dani, Patient Sune-Egge

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Dani wuchs in Heimen statt bei seiner Mutter auf. Andere wären daran zerbrochen – ihn hat diese Erfahrung abgehärtet.

Ich habe früh gelernt, mit widrigen Umständen klarzukommen. Meine Mutter war bei meiner Geburt erst 17. Sie war mit mir überfordert. So kam ich zunächst zu Pflegeeltern, später in verschiedene Heime. Hier lernte ich rasch, dass ich im Leben nichts geschenkt bekomme. Ich musste mich für meine Haut wehren, sonst wäre ich unter die Räder gekommen. Die Gruppendynamik im Heimalltag war schwierig. Diese Erfahrung hat mich abgehärtet. Ich wurde schneller erwachsen, als wenn ich in einem behüteten Familienumfeld aufgewachsen wäre, davon bin ich überzeugt. Ob mich dies wehmütig stimmt? Nein. Ich blicke stets nach vorn. Der Blick zurück bringt nichts, weil er nichts ändert.

Ich bin mir bewusst, dass einiges in meinem Leben schiefgelaufen ist, wohl auch deshalb, weil ich nie jemanden hinter mir hatte, der sich bedingungslos für mich einsetzte. Aber ich mache niemanden dafür verantwortlich. Selbst meine mehr als fünf Jahre Haftstrafen in meinem 43-jährigen Leben nehme ich gelassen hin. Ich habe sie mir im Wesentlichen selbst eingebrockt. Ich akzeptiere sie. Ironie meiner persönlichen Geschichte: Als Knabe wollte ich Polizist oder Anwalt werden. Gelandet bin ich auf der anderen Seite.

Mein unstetes Leben führte mich nicht nur in Gefängnisse, sondern auch auf die Strasse. Gut zwei Jahre meines Lebens war ich obdachlos. Ich übernachtete unter anderem im Pfuusbus, wo ich Pfarrer Sieber kennenlernte. Auch sonst nutzte ich das eine oder andere Hilfsangebot seines Sozialwerks. So wohnte ich fünf Jahre in Brothuuse. Und jüngst erholte ich mich nach einer wüsten Verbrennung, die ich mir beim Kochen mit siedendem Öl geholt hatte, im Sune-Egge von der Operation. Ich bin dankbar, dass ich heute ein Zimmer in einem Betreuten Wohnen habe. Das verschafft mir Ruhe.

Träume habe ich nicht. Ich bin zufrieden mit dem, was ich habe. Das heisst: Einen kleinen Traum habe ich – einen Hund. Ich weiss, dass ich es gut mit Hunden kann und denke, dass er mir gut täte. Aber ernsthaft kommt ein Haustier für mich erst in Frage, wenn mein rechter Arm wieder gesund ist.» 

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«Einen Weg zu mir habe ich gefunden. Weil meine Kinder, Pfarrer Sieber und seine Leute mich nie fallen liessen.»

Luis, ehemaliger Besucher Pfuusbus

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Entwurzelung führte Luis in die Sucht.

«Die Nachricht von Pfarrer Siebers Tod erschütterte mich zutiefst. Ich war am Tiefpunkt angelangt: drogensüchtig und ohne Kontakt zu meinen Kindern, meinem Vater und meiner Grossmutter. Der Pfarrer, so nannten wir Ernst Sieber, war für mich ein Leuchtturm gewesen.

Mit seinem Tod wurde mir bewusst, dass ich nicht nur für mich lebte, sondern auch für andere. Das hatte mir der Pfarrer immer wieder gesagt. Im Pfuusbus spürte ich jeweils, was er meinte. Und es steht dort noch heute in grossen Buchstaben: «Du bisch nöd eläi!» Aber gell, wenn du grad auf einem Drogentrip bist, prallt vieles einfach an dir ab.

Geboren wurde ich in Angola als Sohn eines Portugiesen und einer Angolanerin. In den Wirren des angolanischen Unabhängigkeitskriegs musste mein Vater 1974 Hals über Kopf fliehen. Ich wurde von meiner Mutter getrennt, was traumatisch war. Als 5-Jähriger kam ich in ein mausarmes Nest im Hinterland von Portugal, wo mich meine Grosseltern unter ihre Fittiche nahmen. Zehn Jahre später holte mich mein Vater nach Zürich. Wieder wurde ich ungefragt von einem geliebten Menschen, meiner Grossmutter, getrennt. Die pulsierende Stadt Zürich war für mich als 14-Jähriger ein Kulturschock. Dass es mir, der kein Deutsch sprach, nicht einfach gemacht wurde, kann man sich wohl vorstellen. Ich war ein Niemand, in einer Integrationsklasse mit lauter Ausländern. Im Kreis 4 konnte ich später eine Lehre als Verkäufer für Musikinstrumente machen. Da kam ich mit Kiffen und anderen Drogen in Kontakt.

Zu Beginn der 1990er-Jahre lernte ich meine erste Frau kennen und zog zu ihr ins Zürcher Oberland. Die Geburt unserer Tochter überforderte uns beide. Ich stürzte erstmals komplett ab. Aus drei weiteren Beziehungen stammen drei weitere Kinder, zu denen ich emotional zunächst kaum Kontakt aufbauen konnte, weil mich die Sucht absorbierte.

Es war die Liebe meiner Kinder, die mir Kraft gab. Nach einem kalten Drogenentzug, einer grausamen Tortur, schaffte ich die Abstinenz. Heute arbeite ich mit einem 80-Prozent-Pensum in einem Arbeitsintegrationsprojekt. Ich begann, mich mithilfe einer Therapeutin mit meiner Vergangenheit zu beschäftigen. Das Rote Kreuz hilft mir bei Nachforschungen über meine Mutter. Wenn ich genügend Hinweise habe, will ich sie in Angola suchen. Ob ich sie finde, weiss ich nicht. Einen Weg zu mir selbst habe ich gefunden.»

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«Für mein Zimmer in Brothuuse bin ich sehr dankbar. Die Einrichtung bietet mir ein Fundament, auf dem ich meine Zukunft planen und aufbauen kann.»

Pascal, Bewohner Brothuuse

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In der Notwohnsiedlung Brothuuse kommt Pascal nach einer schweren persönlichen Krise wieder auf die Beine.

Nach meiner vierjährigen Lehre als Siebdrucker probierte ich verschiedene Jobs aus: Ich arbeitete in Restaurants als Servicefachkraft und half im Gartenbau aus. Vor etwas mehr als zwei Jahren gab ich dann meine eigene Wohnung auf, um bei meiner Freundin einzuziehen. Kurz darauf wurde sie schwanger. Doch die anfängliche Freude des Vaterglücks verwandelte sich schnell in eine schmerzhafte Enttäuschung, als sich herausstellte, dass ich nicht der leibliche Vater des Kindes war.

Diese Erfahrung warf mich aus der Bahn und ich zog vorübergehend in ein Hotelzimmer. Später lebte ich in einer Wohnung über einem Restaurant, das aufgrund der Corona-Pandemie vorübergehend geschlossen war. Bald darauf stellte dieses seinen Betrieb dauerhaft ein und ich stand auf der Strasse. Vom Sozialamt wurde mir ein Beistand empfohlen, der mir half, in einer sozialen Einrichtung unterzukommen. Fündig wurde ich beim Sozialwerk Pfarrer Sieber, wo ich innert kürzester Zeit ein Zimmer in der Notwohnsiedlung Brothuuse erhielt.

Hier fand ich endlich wieder ein Zuhause. Das Verhältnis in meiner Siebner-Wohngruppe ist kollegial. Wir kochen zusammen, kümmern uns um den Garten und haben ein offenes Ohr füreinander.

In meiner Freizeit bin ich oft mit meiner treuen vierbeinigen Begleiterin Gürkli unterwegs. Meistens fahren wir mit den öffentlichen Verkehrsmitteln an den Zürisee oder in die Allmend beim Sihlcity, da Hunde dort von der Leine dürfen. Gerne würde ich noch mehr unternehmen, aber oft lässt es sich nicht mit der Hundebetreuung vereinbaren. Am Sonntag besuche ich regelmässig den Gottesdienst in einer Freikirche.

Mein Glaube gibt mir Halt und Kraft auf meinem Lebensweg. Obwohl meine eigenen Mittel bescheiden sind, ist es mir wichtig, etwas zurückzugeben; das deckt sich mit den Werten meines christlichen Glaubens. Deshalb engagiere ich mich jeden Dienstag bei einem sozialen Dienst, der Suppen für Bedürftige und Geflüchtete zubereitet.

Für mein Zimmer in Brothuuse bin ich sehr dankbar. Die Einrichtung bietet mir ein Fundament, auf dem ich meine Zukunft planen und aufbauen kann. Gerne würde ich wieder arbeiten und selbst für meinen Unterhalt aufkommen. Doch meine psychische Beeinträchtigung lässt das nicht zu, weshalb ich eine Invalidenrente beantragte. Vor kurzem habe ich mich bei der Stadt für eine Sozialwohnung angemeldet, mit dem Ziel, in die Selbständigkeit zurückzukehren. Zusammen mit Gürkli an meiner Seite und irgendwann auch mit einer eigenen Familie.

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«Ich packte meine Sachen und entschied mich, unter der Brücke beim Letten zu leben. Dort lernte ich zum ersten Mal das Sozialwerk Pfarrer Sieber kennen.»

Pierre, Hausdienst bei der Anlaufstelle Brot-Egge

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Die Füsse hochzulagern, ist nichts für Pierre (Name geändert). Trotz seines Alters sorgt er engagiert für Ordnung und Sauberkeit in der Notschlafstelle Iglu und in der Anlaufstelle Brot-Egge.

Von Montag bis Freitag widme ich meine Vormittage im Iglu der Reinigung der Toiletten und Böden. Nach der Mittagspause putze ich im Brot-Egge. Auch während der Nacht bleibe ich auf Abruf und bin innert weniger Minuten vor Ort, wenn meine Hilfe benötigt wird. Der Winter bringt oft eine grössere Zahl an Gästen mit sich. Das bedeutet, dass es auch mehr zu putzen gibt. Der Mehraufwand macht mir jedoch nichts aus. Selbst bei hartnäckigen Verschmutzungen scheue ich mich nicht davor, eine Zahnbürste zur Hand zu nehmen, um dem Schmutz auch im unzugänglichsten Winkel den Kampf anzusagen.

Mein Weg ins Iglu führte über mehrere Stationen. Ursprünglich studierte ich Geschichte und Politikwissenschaften und arbeitete anschliessend während 30 Jahren in der Sicherheitsbranche. Das Ende meiner Karriere folgte, als ich mit einem neuen Vorgesetzten konfrontiert wurde, der die alte Garde loswerden wollte. Meine Einsatzzeiten reduzierten sich kontinuierlich, bis ich schliesslich vor der Frage stand, wie ich meine Rechnungen bezahlen sollte.

Mit über 50 Jahren und zunehmenden Schwierigkeiten, eine neue Stelle zu finden, musste ich einen Ausweg finden und meldete mich beim Sozialamt. Der Plan scheiterte, als mir das Amt keine rasche Unterstützung zusprechen konnte. Ich war enttäuscht und fühlte mich im Stich gelassen. Eine andere Lösung musste her. Ich packte meine Sachen und entschied mich, unter der Brücke beim Letten zu leben. Dort lernte ich zum ersten Mal das Sozialwerk Pfarrer Sieber kennen. Einer seiner Seelsorger wies mich auf den Pfuusbus hin, der Obdachlosen Hilfe bietet. Zu meiner Freude wurde mir im Albisgüetli nicht nur ein Schlafplatz angeboten, sondern auch eine Beschäftigung als Platzwart für eine Saison. Ohne zu zögern, nahm ich das Angebot dankbar an. Nach jener Saison durfte ich meine Dienste im Brot-Egge fortsetzen, wo ich bis heute für den Hausdienst zuständig bin.

Ich habe mich mit meiner aktuellen Situation arrangiert und bin zufrieden mit meinem Leben. In meinem Alter lastet nicht mehr dieselbe Bürde unerfüllter Möglichkeiten auf meinen Schultern wie in jüngeren Jahren. Meine Aufgaben erledige ich mit einer Selbständigkeit, die mir keiner streitig macht. Und die Zusammenarbeit mit meinen Kollegen funktioniert reibungslos. Mit den Gästen führe ich gelegentlich Gespräche, obwohl Sprachbarrieren eine vertiefte Verständigung erschweren. Einen Ausgleich zur Arbeit finde ich in der Natur oder beim Kochen. Insbesondere die Spaziergänge im Wald bedeuten mir viel. Wenn man den ganzen Tag die gleichen Gesichter sieht, bringen Bäume und Pflanzen eine willkommene Abwechslung.

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«Unser Ziel in der Anlaufstelle Brot-Egge ist es, Menschen in Not rasch und unbürokratisch zu helfen.»

Karin, Betreuerin im Gassencafé Sunestube

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Seit gut drei Jahren arbeitet Karin als Betreuerin im Gassencafé Sunestube. «Ich erfahre täglich von schwierigen Lebenssituationen – und habe grossen Respekt vor unseren Gästen. Sie beissen sich durch und haben den Humor trotz allem nicht verloren.»

Letzteres erlebt sie vor allem an den Spiel- oder Kreativnachmittagen, beim gemeinsamen Singen oder auch beim Gemüserüsten. Oftmals erfüllt Lachen die Sunestube. Jüngst beobachtete sie einen Gast, wie er vor der Sunestube auf Passanten zuging und ihnen ungefragt erzählte, dass die Sunestube sein Daheim sei.

Die ausgebildete Sozialdiakonin sagt, dass ihr bei der Arbeit immer wieder bewusst werde, wie wenig es brauche, um aus dem Tritt zu geraten. «Unsere gesellschaftliche Normalität ist sehr fragil. Wir in der Sunestube dürfen ein wenig Stabilität schaffen.» 

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«Dass sich medizinisches Personal rührend um ein solches Problem eines Patienten kümmert, ist aussergewöhnlich. Dafür schätze ich die Sieber-Leute sehr.»

René, rührt seit über 23 Jahren kein Heroin mehr an

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René blickte als Heroinsüchtiger in Abgründe. 

«Aufgewachsen bin ich in der Ostschweiz. Mein Vater war hart zu sich und uns. Meine Mutter litt darunter ebenso wie mein Bruder und ich. Ich war ein aufgeweckter Bub, der sich für vieles interessierte. So stibitzte ich meiner Mama schon als Primarschüler erstmals eine Zigarette. Das Kribbeln und das Gefühl des leichten Schwindels beim Inhalieren faszinierten mich. Bald hatte sich mein Körper daran gewöhnt. Ich brauchte anderes, um dieses Gefühl wieder zu erleben. So rutschte ich in die Drogen, nahm schliesslich Heroin. Ob ich es bereue? Ich rate allen, die Finger davon zu lassen. Die Sucht ist stärker als du es bist. Meist gibt es keinen Weg zurück, und du verlierst deine Unabhängigkeit komplett. Aber als junger Mensch musst du die Freiheit haben, Dinge auszuprobieren. Sonst lernst du nichts. Wie auch immer, nach meiner Lehre als TV-Verkäufer rutschte ich vollends in die Drogensucht ab.

Vom Heroin los kam ich vor 23 Jahren: Ich war mit Geld in der Tasche auf dem Weg zum Arzt, als ich einen Kumpel antraf, der mit einem Hundewelpen unterwegs war. Im Verlauf unseres Gesprächs sagte mein Kumpel plötzlich, er brauche jetzt einen Schuss. Ich blickte in die traurigen Augen des kleinen Hundes und wusste sofort, was ich zu tun hatte. Ich gab dem Kumpel mein Arztgeld und nahm den Hund in die Arme. Gleichzeitig war mir klar: Wenn ich weiter Heroin nehme, wird der Hund verwahrlosen oder gar verhungern. Von diesem Tag an rührte ich Heroin nicht mehr an.

Dass ich es schaffte, habe ich aber wohl Pfarrer Sieber zu verdanken. In mein Leben trat er zu Beginn der 90er-Jahre. Damals hörte ich, dass er Süchtige zu einer Landsgemeinde aufs Rütli eingeladen hatte und er die Fahrt dahin bezahlen würde. Ich dachte mir zunächst: Ein Pfarrer, der sowas macht? Ich konnte es nicht fassen. Neugierig fuhr ich hin und begegnete Ernst erstmals. Wie er mit uns sprach, war einmalig. Tief berührte mich, als er mir zum Abschied sagte: Bhüet di Gott! Ich war nicht gläubig, aber diese Begegnung löste in mir etwas aus. Ich fand inneren Frieden und Dankbarkeit für die kleinen Schönheiten des Lebens. Mir wurde klar, dass ich das Leben nicht wegwerfen, im Dämmerzustand an mir vorbeiziehen lassen wollte.

Mit Chili, meinem dritten Hund, lebe ich heute glücklich in einer Überbauung in Zürich-Nord. Es freut mein Herz zu sehen, wie die Kinder auf dem Spielplatz mit Chili spielen. Was mich auch sehr berührt: Der gute Geist von Pfarrer Sieber lebt in seinen Einrichtungen fort. Das erlebte ich eindrücklich, als ich jüngst für eine längere Zeit in das Spital Sune-Egge einrücken musste. Wo bloss sollte ich Chili während dieser Zeit unterbringen? Ich war in grosser Sorge, wusste keine Lösung. Wie sich dann die Pflegerinnen, ja sogar ein Arzt persönlich um das Problem kümmerten, haute mich fast aus den Socken. Sie zogen gar in Erwägung, meine geliebte Chili abwechselnd bei sich zuhause aufzunehmen. Schliesslich fanden sie über die Gassentierärztin von Pfarrer Sieber eine Hundepension. Dass sich medizinisches Personal rührend um ein solches Problem eines Patienten kümmert, ist aussergewöhnlich. Dafür schätze ich die Sieber-Leute sehr.» 

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